Dienstag, 2. Februar 2010

Zurück vor Bismarck

Konterreform der Sozialversicherung
Von Jörn Boewe (Junge Welt)
Das Strickmuster ist so simpel, die bestellten Expertisen so unverfroren, die Interessenlage derart transparent, daß man sich wundert, wie glatt das alles durchgeht. Die Einführung von Zusatzbeiträgen bei der gesetzlichen Krankenversicherung war nicht nur absehbar. Sie war kalkuliert und politisch gewollt. 2007 hat der Bundestag dazu mit den Stimmen von Unionsparteien und SPD die Weichen gestellt. Wenn CSU-Chef Horst Seehofer heute die »Flucht in die Beitragserhöhung« bejammert oder die SPD-Gesundheitsexpertin Carola Reimann sagt, es dränge sich der Eindruck auf, daß der jetzige Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) »die Zusatzbeiträge für Millionen von Versicherten willentlich in Kauf nimmt, um sein Lieblingsprojekt, die Kopfpauschale, durch die Hintertür einführen zu können«, sind das nichts als Nebelkerzen.
Tatsächlich arbeiten Christlich-Konservative und Sozialdemokraten genau wie die FDP seit Jahren daran, das mehr als ein Jahrhundert alte Modell der Sozialversicherung zu unterminieren. Wer dahinter steht, ist offensichtlich. »Arbeitgeber« fordern seit langem, die Gesundheitskosten einseitig den »Arbeitnehmern« aufzubürden.
Das 1883 von Bismarck erlassene »Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter« hat das Verhältnis zwischen Lohnabhängigen und Unternehmern in Deutschland über hundert Jahre geprägt. Die Grundidee – mit der der strategisch gewiefte Kanzler seinerzeit der aufstrebenden Sozialdemokratie das Wasser abgraben wollte – war bestechend einfach: »Arbeitgeber« und »Arbeitnehmer« teilen sich die Kosten halbe-halbe. Nicht mal die Nazis wagten sich, das System komplett zu zerstören. Die DDR schaffte zwar das Unternehmertum ab, behielt aber die Parität bei: Der Werktätige und sein »Arbeitgeber«, z. B. der VEB XY, zahlten exakt jeder die Hälfte des Beitrags.
Die Abschaffung dieses Modells erweist sich als »Jahrhundertkonterreform« der Neoliberalen. Unter Helmut Kohl begannen Union und FDP in den 90er Jahren, den Versicherten diverse Zuzahlungen bei Medikamenten, Brillen und Zahnersatz überzuhelfen. Die paritätische Finanzierung »systematisch« umzuwerfen blieb aber einer SPD-Grünen-Regierung vorbehalten: 2005 verpflichtete »Rot-Grün« alle gesetzlichen Kassen, die »Arbeitgeberbeiträge« um 0,9 Prozent zu senken und den Fehlbetrag auf die Versicherten umzulegen. Der »Gesundheitsfonds« der großen Koalition war der nächste Schritt: Damit wurden die Kassen praktisch genötigt, ihr Defizit über »Zusatzbeiträge« bei den Versicherten zu decken. Das endgültige Einfrieren der »Arbeitgeberbeiträge« und die Erhebung einer »Kopfpauschale« soll der nächste Coup werden. Verhindert werden könnte er – vielleicht – durch einen politischen Streik. Realistisch gesehen werden »Arbeitnehmer« und ihre Gewerkschaften die Niederlage einstecken, aber ohne Streik. Und das Bitterste daran ist, was für ein jungliberaler Schnösel den Truimph einfahren wird.
Passend zum Thema: der gesundheitspolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion Jens Spahn im Interview mit Welt online.

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